Der Viktualienmarkt ist eine Münchner Institution: ein Treffpunkt für Menschen, für Gerüche, Farben und Geräusche. Und für Geschichten. Doch während sich die meisten nur kurz hier aufhalten – ein paar Einkäufe, ein Snack, ein Kaffee, eine Führung – sind wir mal ein bisschen länger geblieben: einen ganzen Tag lang. Gut verbrachte Zeit!
Die schönste Zeit des Tages ist etwas für alle, die früh aufstehen. Morgens um halb fünf, wenn Mond und Sonne noch miteinander ringen, sperrt Tamara Karnoll ihren Stand auf und heizt den Ofen an. Die erste Fuhre Brezn muss aufgebacken werden.
Karnoll ist um diese Zeit ziemlich allein auf dem Viktualienmarkt, alles liegt noch im Dämmerschlaf, die meisten Menschen im Bett. „Das kenn ich so aus meiner Kindheit“, sagt Karnoll. Damals habe ihr Vater sie immer auf den Viktualienmarkt mitgenommen. „Es ist schön, wenn alles langsam erwacht.“
Der Viktualienmarkt ist eine Münchner Institution: ein Treffpunkt für Menschen, für Gerüche, Farben und Geräusche. Für Geschichten. Die meisten bekommen davon allerdings nur einen Teil mit, ein paar Minuten, bestenfalls ein, zwei Stunden, dann ist ihr Besuch wieder vorbei.
„Viktualien“ ist ein altes Wort für Lebensmittel. Im 19. Jahrhundert liebte es das Bildungsbürgertum, Begriffe zu latinisieren, das klang gehobener. Aus dem vormals „grünen Markt“ wurde so der Viktualienmarkt.
Dabei lohnt es sich, Zeit an diesen Ort mitzubringen. Wohl nirgends in der Stadt gibt es auf so engem Raum so viel zu entdecken; wohl nirgends lässt sich München tiefer in die Seele blicken.
„Karnoll’s Back- und Kaffeestandl“ besteht seit 1974, Tamara Karnoll übernahm das Geschäft von ihrem Vater. Gegen sechs Uhr schenkt sie den ersten Kaffee aus, den Ratsch gibt es kostenlos dazu. Früher standen um die Uhrzeit vor allem andere Händlerinnen und Händler am Karnoll-Kiosk. Inzwischen haben die meisten ihre Öffnungszeiten nach hinten verlegt, „die brauchen um sechs noch keinen Kaffee“, sagt Karnoll und lacht.
Ihre Stammkundschaft ist trotzdem groß. Wer früh ins Büro oder in die Werkstatt muss, davor aber noch einen Wachmacher braucht, kommt bei ihr vorbei. Auf der einen Seite ihres Stands gibt es Kaffee, auf der anderen Brezn und Semmeln, an der dritten warten ein paar Bistrotische auf Gäste. Irgendwann erwacht dann auch an diesem Freitag der übrige Markt, ganz langsam.
„Viktualien“ ist ein altes Wort für Lebensmittel. Im 19. Jahrhundert liebte es das Bildungsbürgertum, Begriffe zu latinisieren, das klang gehobener. Aus dem vormals „grünen Markt“ wurde so der Viktualienmarkt. Auch heutzutage gibt es fast ausschließlich Lebensmittel und Blumen hier zu kaufen, darunter viele Spezialitäten. Zum Beispiel bei Rifat Özbilban.
Er sperrt zwischen acht und neun Uhr auf, „je nachdem, wie ich rauskomm.“ Sein Stand verschwindet fast im Gemenge der Farben und Gerüche, nebenan die fest gemauerte Fischzeile, gegenüber der Biergarten. Doch ganz am Eck war noch Platz für Naschkram: Nüsse und getrocknete Früchte. Özbilbans Stand ist der wahrscheinlich internationalste auf dem ganzen Markt, fast jede Frucht oder Nuss stammt aus einem anderen Land: die Walnüsse aus Chile, die Kiwis aus dem Iran, die Cranberrys aus Kanada, die Datteln aus der Türkei.
Seine Ware bezieht Özbilban vom Großhandel. Selbst herstellen wäre zu aufwendig, „vieles muss in der Sonne trocknen, das geht so bei uns nicht.“ Damit die Qualität trotzdem stimmt, probiert Özbilban jede Lieferung, bevor sie in der Auslage landet.
Nach und nach öffnen alle anderen. Vormittags sind noch nicht so viele Menschen unterwegs: genug Zeit, um den Stand ordentlich herzurichten, die Ware zu putzen und mit den Nachbarn zu ratschen. Im Biergarten und vor den umliegenden Wirtshäusern treffen sich die ersten zum Frühschoppen und Sonnetanken.
Eine Touristengruppe ist schon unterwegs, ein Stadtführer gibt Einblick in Münchens Seele. In bloßen Zahlen klingt das so: 22.000 Quadratmeter Fläche, mehr als 200 Jahre Tradition, etwa 140 Stände, sieben Brunnen und ein Maibaum. Der Guide zeigt auf den Boden, die München-Gäste starren auf Pflastersteine. Der gesamte Viktualienmarkt ist unterkellert, erklärt er.
„Direkt unter uns befinden sich vier große Tanks“, von dort führten Leitungen nach oben in den Biergarten und die Schänke. Das Bier in den Fässern wechselt alle fünf bis sechs Wochen, keine Münchner Brauerei soll bevorzugt werden. Eine Tafel an der Schenke gibt Auskunft: Heute ist Löwenbräu an der Reihe.
Mittags herrscht Hochbetrieb. Angestellte und Arbeitende schauen für einen Imbiss am Viktualienmarkt vorbei. Die Auswahl ist groß, die Entscheidung schnell gefällt – viele haben ihren Lieblingsmetzger. In Markus Reitmayers Wild- und Geflügelmetzgerei scheint die Zeit mit weißen Kacheln und Hirschgeweihen an der Wand stehen geblieben zu sein.
In der Theke warten Leberkäse vom Wild und Brühpolnische vom Reh, hinter der Theke die Verkäuferin Michaela Lutz. „Jeder Tag ist anders“, sagt Lutz. Wie zum Beweis kommt eine Kundin herein, die ausnahmsweise ein Fünf-Gänge-Menü für sechs Personen plant. Auf einem Zettel hat sie alle Zutaten fein säuberlich notiert, teils schon abgehakt. Für den vierten Gang, Kaninchen mit Frühlingsgemüse, benötigt sie fünf Keulen.
Es entspinnt sich ein kurzes Gespräch über die richtige Zubereitung. „Ich komme hierher, weil ich weiß, dass die Sachen aus Bayern sind“, sagt die Frau, dann muss sie weiter zum nächsten Stand. Ein paar Zutaten auf der Liste fehlen noch.
Wer dem Gedränge nachmittags entfliehen will, muss gen Himmel schielen. Neben dem Viktualienmarkt ragt der Turm von St. Peter empor. Der „Alte Peter“ steht auf geweihtem Boden, rund um die Kirche befand sich früher der erste Friedhof der Stadt. Ein paar Grabsteine, wie Schautafeln an die Mauer geschlagen, zeugen davon.
Die Kirche selbst wurde in den 800 Jahren ihres Bestehens mehrmals umgebaut. An einen Aufzug hat dabei niemand gedacht, rund 300 Stufen führen auf den Turm. So manche bringt die Treppe zum Keuchen, dafür liegt einem oben die ganze Stadt zu Füßen.
Nach Süden schweift der Blick bei Föhn bis zu den Alpen. Scharfe Augen erkennen einen Gipfel, der nach rechts steil abfällt: die Zugspitze, mit 2962 Metern Deutschlands höchster Berg. Im Münchner Osten fließt die Isar, im Nordwesten sticht die Zeltkonstruktion des Olympiastadions hervor.
16 Uhr. Tamara Karnoll schließt ihr Back- und Kaffeestandl. Anderswo läuft das Geschäft dagegen erst an. Freitagnachmittag sei neben Samstag die Haupteinkaufszeit, sagt Thomas Lupper. Er ist mit seinem Stand seit vielen Jahren am Markt vertreten, wobei: Verkaufsraum wäre vielleicht passender. Helle Lampen tauchen Menschen und Speisen in warmes Licht. Die Wände zieren Regale mit feinen Schnäpsen und Weinen, in der Mitte prangt eine stattliche Käsetheke. 2006 nahm er spanische Feinkost dazu.
Hier kommen vor allem diejenigen vorbei, die sich mit Schmankerln versorgen und den Kühlschrank auffüllen möchten. München-Gäste greifen eher zur Schnapsflasche, lässt sich leichter nach Hause transportieren. Luppers Empfehlung? „Hausgemachter Trüffelbrie“, sagt er und richtet gleich etwas Käse auf einer Holzplatte an.
So etwas gehört hier dazu, sich Zeit zu nehmen für einen Ratsch, die Dinge gemütlicher anzugehen. Die Großstadt ist oft hektisch und anonym. Nicht auf dem Viktualienmarkt. Man muss sich nur darauf einlassen – und auch mal treiben lassen.
Das Markttreiben biegt auf die Zielgerade ein. Kartoffelhändler Uwe Luber philosophiert über die richtige Kartoffelzubereitung. Irene Heller berät bei der Senf- und Soßenwahl. Und Blumenhändler versuchen, die letzten Schnittblumen loszuwerden. Rifat Özbilban hat genug verkauft und räumt seine Nüsse und Früchte weg.
Im Biergarten gegenüber bereiten sich die ersten Gäste auf den Feierabend vor. Zwei Fremde haben mit ihren Bierkrügen Platz am selben Tisch gefunden, es dauert nicht lange, bis sie ins Gespräch kommen. Der eine ist nur zum Essen da. Der andere kommt regelmäßig aus dem Allgäu her, um der Enge des Dorflebens zu entfliehen: „Da brauch ich das einfach, unter Leuten sein.“
Nach einer Stunde trennen sich die Wege wieder. So etwas gehört hier dazu, sich Zeit zu nehmen für einen Ratsch, die Dinge gemütlicher anzugehen. Die Großstadt ist oft hektisch und anonym. Nicht auf dem Viktualienmarkt. Man muss sich nur darauf einlassen – und auch mal treiben lassen.
Der Tag endet dort, wo er einst begann: im Café Frischhut gegenüber der Schrannenhalle. In den 70ern ein beliebter Treff für Fans des Nachtlebens. Wenn die Clubs gegen vier Uhr morgens schlossen, zogen sie auf eine Tasse Kaffee und einen Kringel Schmalzgebäck zu Manfred Frischhut weiter, dem Chef.
Kartoffelhändler Uwe Luber philosophiert mit Kunden über die richtige Kartoffelzubereitung. Irene Heller berät bei der Senf- und Soßenwahl. Rifat Özbilban hat genug verkauft und räumt seine Nüsse und Früchte weg.
Inzwischen sind die Clubs Richtung Sonnenstraße und Ostbahnhof gewandert. Frischhut, 74 Jahre alt, und der Duft nach frischen Schmalznudeln sind geblieben. Fünf Sorten backen seine Angestellten, man kann ihnen dabei zusehen, wie sie ständig neue Rohrnudeln, Auszogne und Striezel aus der Maschine ziehen und in die Auslage packen.
Das Geheimnis? Wie in einem guten Restaurant mit kleiner Speisekarte, sagt Frischhut: „Wir machen wenig, das aber richtig gut.“ Qualität sei eben das Wichtigste. Frischhut verabschiedet sich, er hat ein bekanntes Gesicht an einem Tisch entdeckt, eine Stammkundin von damals, den wilden 70ern. Zeit für einen Ratsch.
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